Stadt und Krieg im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Historikerinnen und Historiker vor Ort e.V. (HvO)
Ort
Gladbeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Andrea Niewerth, Gladbeck

Am Freitag, den 9. September 2005, fand in der "Städtischen Galerie im Rathauspark" in Gladbeck die jährliche Herbst-Tagung des Vereins "Historikerinnen und Historiker vor Ort e.V." statt. Rund 20 Mitglieder und Interessierte tauschten sich in diesem Jahr rege über das Thema "Stadt und Krieg im 20. Jahrhundert" und dessen Vermittlung aus.

Nach einer kurzen Begrüßung der stellvertretenden HvO-Vorsitzenden Dr. Erika Münster-Schröer (Stadtarchiv Ratingen), führte ‚Hausherr' Rainer Weichelt M.A. (Stadtarchiv Gladbeck) mit seinem Vortrag "Krieg und Selbstwahrnehmung in den Städten nach 1945. Gedanken zur Aufgabenstellung von Historikerinnen und Historikern vor Ort" in die Thematik ein.

Hintergrund seiner Überlegungen, so Weichelt, sei ein für 2008/2009 geplantes Projekt, das eine "neue" NS-Geschichte für die Stadt Gladbeck sein soll. Am Beispiel seiner Stadt suche er die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges zu erforschen und dabei Nationalsozialismus und Krieg in neuer Perspektive und mit geänderten Fragestellungen in eine breite Untersuchung, welche die Jahre 1929 bis 1955 umreißen soll, einzubinden.

In seinen weiteren Ausführungen bot der Referent einen historischen Überblick über den Umgang mit der Vergangenheit des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkrieges in der Ruhrgebietsstadt Gladbeck: In der ersten Phase vom Kriegsende 1945 bis Anfang der 1950er Jahre begnügte man sich vor Ort zunächst mit einer vor allem oberflächlichen Gegenbewegung zum Nationalsozialismus: Straßennamen wurden geändert, die Stadtspitze ausgetauscht. Eine tiefergreifende personalisierte Betrachtung sowie personelle Konsequenzen wurden jedoch ausgeblendet. Insgesamt fand, so Weichelt, keine kritische, ortsbezogene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt. In einem 1954 entstandenen ersten Geschichtswerk, das den Zeitraum von 1939 (!) bis 1954 umfasste, wurden nur die Opfer des Krieges benannt, eine Analyse der Verhältnisse unter dem NS-Regime wurde nicht angeboten, die Schuldfrage sogar komplett ausblendet. Ende der 1960er Jahre erschienen zwei weitere Bücher - ein ‚offizielles', in dem sich ein erster Hinweis auf das NS-System fand, sowie ein nicht-offizielles, in dem das Geschehen nach 1933 nach wie vor komplett unerwähnt blieb. 1978 wurde als ‚graue' Literatur eine Kriegsgeschichte der Stadt Gladbeck veröffentlicht, in welcher erstmals die Stadt in ihrer Gesamtheit ins Visier genommen wurde. 1983 schließlich erschien das Buch des renommierten Historikers Frank Bajohr, das eine erste kritische Auseinandersetzung mit Verfolgung und Widerstand darstellte und das einen wichtigen Umschwung in der Selbstbetrachtung der Kommune markierte.

Nach nunmehr 22 Jahren sei es, so Weichelt, an der Zeit, eine ‚neue' NS-Geschichte auf den Weg zu bringen. Mit den Forschungserkenntnissen der vergangenen zwei Jahrzehnte seien die aktuellen Anforderungen vor allem eine umfassende Analyse der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, eine integrierte Stadtgeschichte, die nicht trennt zwischen Nationalsozialismus und Kriegsgeschehen und die Fragen nach der örtlichen Wirtschaft aufwirft. Das Forschungsfeld müsse sich hierfür über einen Zeitraum erstrecken, der weit über das Kriegsende hinaus reiche (bis etwa Mitte der 1950er Jahre), um so z.B. die Fortführung von Stadtkonzepten - z.B. eines Siedlungskonzeptes - eingehend zu betrachten. Darüber hinaus sollen auch Themenbereiche wie das Gladbecker Bunkersystem oder das der Vertriebenen in die neue Studie miteinbezogen werden. Auch sollen mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews Aspekte des Alltags näher beleuchtet werden. Sein Anliegen sei es, so Weichelt abschließend, eine neue Geschichtskultur zu entwickeln, die die bestehende Trennung bisheriger Geschichtsschreibung aufhebt. Dadurch solle jedoch nicht "weniger NS", sondern "mehr" auf eine andere Art und Weise der Betrachtung zugeführt werden.

Als zweite Referentin beschäftigte sich die Ethnologin Dr. Christine Schönebeck in ihrem Vortrag "Vorstellen könnt ihr euch den Krieg gar nicht, so schrecklich ist der" mit den Kriegserfahrungen des Gladbecker Schülers Franz Küster (1898-1918) im Ersten Weltkrieg. Am Beispiel von insgesamt 103 Feldpostbriefen, die Franz Küster zwischen 1915 und 1918 an seine Eltern schickte (die Gegenbriefe sind leider nicht erhalten), versuchte Schönebeck Indizien für den Alltag der Soldaten sowie die Bewältigung des Kriegsgeschehens zu finden. Mutete der Krieg allen Bevölkerungsteilen Veränderungen zu, waren diese, so Schönebeck, vor allem für die an der Front befindlichen Soldaten extrem.

Aus den Feldpostbriefen des jungen Franz Küster erfahre man jedoch nur einen subjektiven Teil seines Kriegsbewusstseins. In seinen Briefen thematisiert Franz vor allem die Lebensmittelversorgung (eine Vielzahl der Briefe kommentiert die ankommenden Pakete bzw. bittet um bestimmte Artikel für die noch zu erwartenden Pakete), sein Verhältnis zu den anderen Soldaten und Offizieren sowie die Formung seines Selbst- und Fremdbildes (an vielen Stellen modelliert er dieses, um so seinen Eltern seine eigene Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu vermitteln). Darüber hinaus werden Briefe zu besonderen Anlässen in der Familie (Geburtstage, Namenstage etc.) verfasst, aber auch das Gladbecker Geschehen ist Thema seiner Post, da der junge Mann - zeitversetzt - auch an der Ostfront die Gladbecker Zeitung lesen kann. Vor allem hat der Leser Teil an der Entwicklungsgeschichte eines jungen Menschen, sein Erwachsenwerden sowie seine innerliche Wende zum Realisten: Meldete sich der aus einem tief religiösen und wohlhabenden Elternhaus stammende Franz - die Familie Küster betrieb einen großen Holzhandel in Gladbeck und gehörte zu den wohlhabendsten Familien der Umgebung - 1915 17jährig noch begeistert und voller Patriotismus freiwillig für den Kriegsdienst, so wird er mit seiner "Feuertaufe" der ganzen Grausamkeit des Krieges gewahr; dieser Wendepunkt findet auch einen merklichen Niederschlag in seinen Briefen. Knapp 20jährig verstirbt Franz Küster, der 1917 zu den Fliegern wechselte, bei einem Flugzeugabsturz.

Hinsichtlich des Quellenwertes seien diese Briefe, so Schönebeck, als "geschönt" und "wenig authentisch" zu bezeichnen. Dieser Effekt sei nur dann zu umgehen, führte die Referentin weiter aus, wenn Feldpost in Tagebuchform geschrieben sei, da diese Form am ehesten authentisch sei.

Die Feldpost des Frank Küsters erscheint voraussichtlich im November 2005 unter dem Titel "'Vorstellen könnt ihr euch den Krieg gar nicht, so schrecklich ist der.' Die Feldpost des Gladbecker Schülers Franz Küster an seine Eltern 1915-1918" als Buch.

Nach der Mittagspause stellte Christoph Schotten M.A. (Stadtarchiv Velbert) ein Interviewprojekt für die Städte Velbert, Neviges und Langenberg aus dem Jahre 1995 vor. Hintergrund des Projektes war der Auftrag zu einer Ausstellung anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges.

Für dieses Unternehmen stand den Forschern ein großer Aktenbestand für den Zeitraum 1939 bis 1945 sowie nach 1945 angefertigte Augenzeugenberichte und einige wenige Fotos zur Verfügung. Ergänzend sollten Interviews mit Zeitzeugen Aspekte des Alltags erhellen. Wie in vielen anderen Städten auch, hatte in den Veröffentlichungen über Velbert, Neviges und Langenberg, die in den 1950er und 1960er Jahren entstanden sind, der Fokus vor allem auf dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelegen - hier vor allem auf Ende April 1945, da die drei Städte erst zu diesem Zeitpunkt vom Bombenkrieg betroffen waren. Mit einem Etat von nur 4.200,-- DM und 20 Personen, die als Zeitzeugen noch zur Verfügung standen, ging man ohne standardisierten Fragenkatalog, sondern vielmehr mit dem Konzept eines "lockeren Gespräches" von je 30 Minuten an das Vorhaben. Entstanden ist eine aus drei Filmen bestehende Reihe, die Schotten den Anwesenden in Ausschnitten vorführte: "Das Leben ging weiter - und es war Krieg", "Der Krieg ging zu Ende - und alles wurde anders?", "50 Jahre danach - eine andere Generation".

Insgesamt offenbarten die drei Filme eine weitestgehend naive Schilderung der Ereignisse. Diese beruhte, wie der Referent erklärend erläuterte, nicht zuletzt auf der ablehnenden Haltung der Interviewpartner, sich öffentlich zu einzelnen Themen zu äußern (z.B. zum Bereich der Zwangsarbeit). Weiterhin wies Schotten auf die Problematik hin, dass in der Ausstellung, die eine Vielzahl von Quellen und einige Fotos präsentierte, vor allem die Videos - ohne Kontextualisierung - konsumiert wurden. Von daher könnten, so Schotten, Zeitzeugenbefragungen immer nur eine Ergänzung sein, keinesfalls jedoch die Aussagenkraft von authentischen Quellen ersetzen.

Die Tagung, die sich als themenorientierter Erfahrungsaustausch verstand, bot nach den drei Vorträgen breite Möglichkeit, sich über diese und ähnliche Projekte zu verständigen, was von den Teilnehmern rege genutzt wurde.

Neben ergänzenden Bemerkungen zum Gehörten und Gesehenen wurde vor allem die Schilderung eigener Erfahrungen in die Diskussion eingebracht. Vor allem wurde die allgemeine Problematik mit Interviewsituationen sowie die inhaltliche Begrenztheit von Interviews von den Anwesenden diskutiert. Dabei bestimmte die Frage nach dem Ungang mit Erinnerung und jene, wie man zu einem differenzierteren Bild kommen könnte, die Diskussion. Hier böten, so Dr. Erika Münster-Schröer abschließend und zusammenfassend, neue Formen, eine geänderte Vermittlung sowie mehr interdisziplinäre Arbeit mögliche Ansatzpunkte.


Redaktion
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